2003/02/25

Der Zug

Furunkel hatte Angst, den Bahnsteig zu betreten. Er war noch nie vorher auf einem Bahnhof gewesen. Der Lärm der vorbei donnernden Eilzüge hatte ihm bereits in der Eingangshalle eine höllische Furcht eingejagt, viele fremde Menschen streiften seine Ohren oder seinen Schwanz, was ihn zutiefst anwiderte. Doch mußte er sich dem Willen seiner Besitzerin fügen - eine untersetzte Mittvierzigerin mit Damenbart und ausladenden Kehllappen. Sich unbehaglich umblickend folgte der verunsicherte Vierbeiner zögerlich den wasserstoffbombenfesten Dauerwellen seines Frauchens in Richtung einer der an Gleis Sieben bereitgestellten Nahverkehrsschienenbusse.

Furunkel mochte sein Frauchen nicht. Er hatte sie auf dem Heraldsbacher Straßenstrich kennengelernt, 4 Minuten nachdem der kleine Timmy Dolziskinski vom 18-Uhr-34-Bus, Linie 36 nach Juppelschlupp-Süd, zu Brei gefahren worden war. Furunkels eigentlicher Name war Stanislaf Faradima Dolziskinski, was aber außer Timmy, seinem alkoholkranken Vater Dimitri und der schrulligen Beate Klumpstuhl im Nachbarkarton niemand wußte. Auch Furunkel hatte seinen richtigen Namen nie gehört... der kleine tote Timmy war taubstumm gewesen und sein Vater hatte Furunkel immer nur "Mutter" oder "Zieh Leine!" genannt. Als nun an jenem schicksalshaften Abend jene unförmige Weiblichkeit Furunkel alleine auf dem Bordstein dahin trotten sah, trat sie tapsigen Schrittes an ihn heran und fragte gurgelnd: "Watt? Wer bist du denn??".
Furunkel antwortete wahrheitsgemäß: "Zieh Leine, Mutter!" , was die tierliebe Frau nur allzu freudig sofort in die Tat umsetzte.
Von da an zerrte das Zauselzombieimitat Furunkel von einer gar schauderhaften Lokalität zur nächsten; er war mit ihr bereits im Waschsalon, auf der Bowlingbahn und im Penny-Markt um die Ecke gewesen, aber nirgendwo fühlte sich Furunkel derart unwohl wie in diesem stinkenden, beengten Massentransportmittel, das er eben gerade äußerst widerwillig betreten mußte.

Mit gesenktem Blick schlich Furunkel seinem Frauchen nach. Stechende Stimmen umgaben ihn, zischende Geräusche drangen verheißungsvoll an sein extrem empfindliches Gehör. Irgendwo sang ein afrikanischer Elvis-Imitataor "Yesterday", was Furunkel aber leider trotz seines überaus empfindlichen Gehörs nicht hörte. Der giftgrüne Bodenbelag roch nach Aceton. Links und rechts von Furunkel wuchsen abstoßend häßliche Kaugummipilze aus den Sitzbezügen der Sitzgelegenheiten für stehunwillige Sitzgelegenheitenbefürworter auf Reisen, von denen einige saßen, standen oder lagen, je nach Gelegenheit.
Nach einigen Minuten Gruseltour durch die beiden wesenden Waggons machte es sich auch Furunkels Frauchen auf einem ockerfarbenen Kotzefleckrückstand bequem und der Zug rollte los, nicht ohne Furunkels außergewöhnlich empfindliches Gehör mit einsetzendem Motorenrumpeln zu malträtieren.
Nur 10 Minuten nach Beginn der Fahrt begann Furunkel fürchterlich Müssen zu müssen. Sein Frauchen sabberte bereits selig schlummernd ihre rustikale Rüschenbluse ranzig und hatte die Hundeleine nicht mehr länger fest im Griff. "Oh, gut, eine Chance zum Austreten", dachte der konfessionslose Köter keck bei sich im Stillen und spurtete ungehindert zur Mitte des Vehikels. Dort könne er eine Toilette konsultieren, das hatte ihm sein unglaublich sensibles Gehör seit Fahrtantritt bereits mehrfach offenbart. Glücklicherweise fand Furunkel die übersichtliche Pinkelparzelle nicht nur unbesetzt, sondern auch unbeschmutzt vor... wenn es etwas gab, was Furunkel auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann waren das unhygienische Urindepots. Der wackelte dankbar mit dem Schwanz, als er das Klo betrat und sich bereit machte zum Feuern.

Plötzlich schlangen sich schmierige Pranken um seinen Hals. Jemand mußte sich von hinten an ihn herangeschlichen haben. Furunkel zerrte und zog, zappelte und ziepte, aber er konnte den Griff des unbekannten Angreifers nicht lösen. Atemlos vor Schreck harrte er seinem Schicksal entgegen, bis er einen mächtigen Stoß in seiner ungeschützten Rosettenregion registrierte. Rythmisch riß der monströse Kolben Furunkels zierlichen Enddarm entzwei. "Mein Schwanzwedeln muß einen spanischen Holzkohlefabrikanten angelockt haben, der gerade frisch aus dem Gefängnis entlassen wurde und seine Triebe nicht unter Kontrolle hat", ging es dem armen Hundesohn durch den Kopf, als die erste seiner Rippen barst. Der spanische Holzkohlefabrikant namens Dieter stocherte so lange in den Innereien von Furunkel umher, bis er in einer gewaltigen Explosion seine Erbanlagen in des Tieres bebenden Leib ergoß, etwa 2,47 Zentimeter von der mißhandelten Milz entfernt. "OLE!" stöhnte der bärtige Barbar behutsam, als er von Furunkel abließ und den dänischen Dalmatiner unsanft in die Toilette warf.

In der Sekunde, in der Dieter die Tür der Bedürfnisanstalt öffnete, um zu seinem Sitzplatz zurückzukehren, wurde er tödlich von einem unbarmherzigen Zug erfaßt.
"Holla, anscheinend sind da irgendwo Fenster geöffnet", dachte Furunkel vor schadenfroher Genugtuung gackernd und verendete augenblicklich.

Der Zug fuhr mit 31 Minuten Verspätung im Zielbahnhof ein. Es war ein wunderschöner Sommertag.

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