2003/02/24

Email an eine Privatpatientin

Ich tu mir immer schwer mit Anfängen. Besonders Mail-Anfänge sind doof.
Hallo. Ich hab grad Angst vor dir, du siehst aus wie Ripley. :)
Hörst du bestimmt ständig. Die Ähnlichleit ist verblüffend.
Ich hoffe, das beleidigt dich jetzt nicht. Immerhin war Ellen Ripley eine der ganz großen Frauen moderner Pop-Sci-Fi-Gummiviechkram-Schlitzer-Ekel-Suspense-Kultur. Mit der deutschen Stimme von Barbara Blocksberg.
Barbara Blocksberg ist die Mutter von Bibi Blocksberg, aber das ändert prinzipiell nix an der Tatsache, daß du wie Ripley aussiehst und ich keinen guten Start für die Mail finde, von der du dich sicherlich, schon etwas ungeduldig werdend, fragst, was zur Hölle wer da eigentlich von dir wollen tut.

Also zunächst mal will ich "Danke" sagen für die Sache damals mit den Haaren. Aber ich bin grad auch ziemlich nostalgisch und mir gehts nich gut und da stalke ich manchmal alten Weggefährten bei Facebook hinterher. Einige von denen haben Freundeslisten, die dann wieder zu anderen Freundeslisten führen und auf einmal stolpert man über diesen Namen und erinnert sich schlagartig an die Sache mit den Haaren und hat das unbändige Bedürftnis, eine Mail wie diese hier zu schreiben, bevor man sich bewußt wird, was für ne selten dämliche Idee das is, Leuten von ganz von früher ungebeten einen anne Backe zu mailen, obwohl sie ... also, in diesem Falle du ... bestimmt stark beschäftigt sind bzw. ist mit Arbeit und Selbstverwirklichung und Kram. Und dann google ich dich und find deinen YouTube-Account und seh diesen Remastery-Repixelated-Dokufilm und lese, du bist jetzt "moving image creator" ... sozusagen Bewegtbilderschafföse ... und wohnst in Berlin und hast Kontakt zu Leuten, die Machmut heißen und Kunstsachen machen. Berlinerinnen, die Leute kennen, die Machmut heißen und Kunstsachen machen, sind auch eine Form von Klischee, dem typischen "Gamer" nicht unähnlich.
Damit will ich nicht behaupten, daß sich diese beiden Klischees inhaltlich ähnelten, es geht nur um das sich hinter beiden Klischees verbergende Prinzip.
Aber ich schweife ab ...

Du hast mir in der Neunten ... könnte auch die Zehnte gewesen sein ... mal über die Haare gestreichelt. Das hat mir in dem Moment echt gut getan, auch wenn ich mir das natürlich nicht hab anmerken lassen. Für dich dürfte es ein eher wenig einprägsames Ereignis gewesen sein, zumal die Haare reichlich fettig gewesen sein dürften zu diesem Zeitpunkt, weil ich immer diese Baseballkappen getragen hab, um mich morgens nich noch unnötig frisieren zu müssen ... erstens war ich nie sonderlich gut im Friesieren, zweitens waren meine Haare schon immer außerordentlich widerspänstig. Und fettig.
Entschuldige bitte die Fettigkeit. Hätte ich geahnt, daß du einfach mal eben so im Vorbeigehn durch meine Haare streicheln würdest, hätte ich dich vorher gewarnt.

Nein, wahrscheinlich nicht. Ich hatte es früher nich so mit ... reden. Aber vielleicht wäre ich erschrocken zurückgezuckt. Im Nachhinein bin ich froh, diese unvermutete Streicheleinheit nicht kommen gesehen zu haben, immerhin war sie eindrucksvoll genug, in meiner Erinnerung haften geblieben haben zu sein ... getan.
Was mich sogar veranlaßt hat, dir ne Mail zu schreiben. Du solltest sie eigentlich in diesem Augenblick gerade lesen. Wenn nicht, isses auch nicht schlimm. Ich weiß ja, wie beschäftigt alle heutzutage sind.
Also, danke nochmal für die Sache mit den Haaren.
Mehr gäbe es nicht zu berichten, aber ich mag noch nicht aufhören mit Mailen. Ich maile sonst eher selten, was wohl daran liegen mag, daß relativ wenige Menschen in der Neunten ... könnte auch die Zehnte gewesen sein ... freiwillig auch nur in die Nähe meines Haaransatzes gekommen sind. Jaaaa, ich weiß, was du jetzt denkst ...
"Liebes Lieschen, was ein verbitterter, selbstmitleidiger Schwätzer!"
Jaaaaaaaaa, da ist bestimmt was dran. Aber es hätte um einiges schlimmer kommen können mit dem Charakteraids meinerseits ohne deine kleine, in deinen Augen höchstwahrscheinlich unbedeutende Körperlichkeit.
Möglicherweise hast du damit einen spätpubertären Suizid verhindert, möglicherweise auch nicht, wer weiß das schon so genau?!
Ich meine, sonst hatten wir ja nicht viel Kontakt damals.
SOOOOOO besonders war die Sache also nicht. Bild dir blos nix drauf ein.
ICH BRAUCHE DICH NICHT. ICH BRAUCHE NIEMANDEN!


Entschuldige bitte, ich wollte nicht laut werden. Manchmal bekomm ich in all meiner Jämmerlichkeit cholerische Schübe, mit denen ich einen Rest von Männlichkeit zu erhalten versuche. Sieh's mir bitte nach, ich bin kein verrückter Perverser oder sowas.
Noch nicht.

Woran erinnere ich mich ... außer den Haaren muß es doch noch irgendwas ...
weißt du noch, damals, als ...

öhm ...

also, da war dieser eine Morgen, an dem bin ich zum Schuleingang rein. Lustburger Gymnasium, der Eingang zum Pausenhof für die Unterstufe, gegenüber von dieser merkwürdigen Bücherei ... du weißt bestimmt, was ich meine. Und da kommst du mir von hinten ins Kreuz gestiefelt. Du warst immer so klein, man hat dich nich sofort kommen sehn, um sich zu verstecken oder schnell die Richtung zu wechseln.
Du sagtest "Guten Morgen". Und ich sagte "Guten Morgen". Das war mir ziemlich unangenehm, weil ich dich einerseits mochte, es andererseits aber nich so hatte mit ... reden ... also sind wir stumm nebeneinander zum Haupteingang getrottet und ich hab krampfhaft so getan, als gäbe es keine Veranlassung meinerseits, irgendwas zu sagen, obwohl mir sehr wohl bewußt war, daß du wahrscheinlich eine wie auch immer geartete Form zwischenmenschlicher Kommunikation erwartet hast. Völlig zurecht.
Das tut mir leid.


Dann war da noch diese Begegnung auf einem der Schulflure zu einer Zeit, da uns beiden bereits eindrucksvolle Brüste gewachsen waren. Während du deine stolz zu präsentieren gedachtest, was ich dir an dieser Stelle keineswegs zum Vorwurf machen möchte, versuchte ich, meine möglichst zu verbergen, denn das männliche Geschlecht ist von Natur aus nicht zum Ausbilden solcher Statussymbole konzipiert.
Wie dem auch sei, wir standen also urplötzlich voreinander, Brust an Brust ... ok, Brust an Bauchnabel, du warst noch immer nicht wesentlich in die Höhe gewachsen ... und aus deinem quirligen, Genie und Wahnsinn gleichermaßen auszuwerfen fähigen Munde kam sinngemäß:
"Ich hab deine Stimme gestern im Radio gehört."
Keine Ahnung, was ich darauf erwidert hab.
Wahrscheinlich ... "Ja".
Oder "Ah ja."
Dann bin ich, wie ich mich kenne, reichlich fix abgehaun. So wie immer, wenn du mich angesprochen hast. Es hat mir selbstredend geschmeichelt, daß du mich an der Stimme erkannt hattest. Ich meine ... so selten, wie du die zu Gehör bekommen hast ...
aber ich habs mir, mal wieder, nicht anmerken lassen.

Mehr isses nich.
DOCH, warte ...

als ich einige Jahre später elterlicherseits auf dieser abartigen Privatschule für Sonderverstrahlte geparkt wurde, hab ich mal behauptet, mit dir intim befreundet gewesen zu sein.
Ich gebe zu, das war nicht sonderlich nett von mir. Nicht gerade die feine, englische Art, sozusagen.
Ohhhhhh, du hast schon für die BBC Bilder bewegt, steht bei YouTube. Kennst du den Doctor? Ich LIIEEEEBE den Doctor! :)
Du ... nicht?
Nö, nicht weiter schlimm.
Nein, nein, schon gut. War wohl etwas naiv, anzunehmen, nur weil man mal für die BBC Bilder bewegt hat, müsse man automatisch den Doctor kennen. Vergiß es einfach.

Wo war ich ...
also, ich hatte da dieses Foto von der unsäglichen Segeltour in Holland ... du erinnerst dich bestimmt, du warst, wie alle anderen, rund um die Uhr bekifft. Ich natürlich nicht, ich hab bis heute keinen einzigen Joint geraucht. Weil He-Man es mir als Kleinkind verboten hat. "KEINE MACHT DEN DROGEN" und so.
War wohl das einzige Kind WELTWEIT, das wo das ernst genommen haben tat.
Jedenfalls gabs da doch abends auf dem Schiff immer diese Lagerfeuerromantik mit Gitarren und Gesang ... ohne Chance, sich irgendwo zu verkriechen ... das war furchtbar für mich ...
auf einem dieser Fotos saß ich zufällig neben dir und das hab ich dann eines Nachts in einer Runde von stark alkoholisierten Mitprivatschulspacken zum Anlaß genommen, mich einzugliedern in ein Gespräch über abgelegte Verflossene. Ich hab keine bösen Sachen gesagt oder irgendwelche versauten Details erfunden. nur das Foto gezeigt und ... naja ...
ich schwöre dir, von denen wird sich keiner an diese Situation erinnern. Auf dem Foto haste noch nich wie Ripley ausgesehn und ... ehrlich, die waren nicht sonderlich beeindruckt von diesem Foto.
Nein, das lag nich an dir, die konnten kaum noch ausn Augen gucken vor Tequilla. Sei unbesorgt, es wird kein Nachspiel für dich haben.
Vielleicht für mich, wenn du deswegen jetzt sauer bist und das Haarestreicheln rückwirkend annullieren möchtest. Könnte ich verstehn. Aber tus bitte trotzdem nicht. Es tut mir leid, ich werds nie wieder tun.


So, nun ists genug.
Danke fürs Zuhörn. Oder ... Zulesen. Oder so.
Keine Sorge, ich werde nicht wieder mailen. Und du mußt auch nicht antworten.
Ich wollt nur "Danke" sagen wegen der Sache mit den Haaren.

Ich fühl mich nicht sonderlich. Ich geh wohl am besten schlafen.

Grüß alle Leute, die Machmut heißen, von mir. Und halte mir meine Rechtschreibung nicht vor, ich bin einfach zu lebensmüde zum Korrekturlesen.

ciao, bella.




(Alle Namen und andere Details wurden zum Schutze des Privatsgedöhns geändert.)

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